Alexander Melnikov

Geniales Klavierspiel, schrieb Alfred Brendel einmal, sei jenes, »das richtig und kühn zugleich ist. Seine Richtigkeit gibt uns zu verstehen: So muss es sein. Seine Kühnheit überrascht und überwältigt uns mit der Erkenntnis: Was wir für unmöglich gehalten haben, wird wahr. Zur Kühnheit aber gehört jene Übertragung, die das Publikum in den Bann der Persönlichkeit zieht«.

Unter den genialen Pianisten des 20. Jahrhunderts wird man sehr leicht auf einige Namen stoßen, die das Brendelsche Wort von der Übertragung, die das Publikum in den Bann der Persönlichkeit zieht, verkörpern: Vladimir Horowitz, Artur Rubinstein, Glenn Gould, Friedrich Gulda, Arturo Benedetti Michelangeli – sie alle vermochten mit wenigen Tönen den Weltinnenraum der Musik mit Magie zu füllen und einen ganzen Saal gleichsam zu verzaubern und die darin anwesenden Menschen zu verwandeln. Und auch Svjatoslaw Richter besaß diese seltene Genialität. Seine häufig sowohl klanglich wie auch im Tempo extremen Lesarten der Werke von Bach bis Beethoven und Brahms, von Schubert zu Schumann und Schostakowitsch atmeten die Aura des Ungewöhnlichen, Einzigartig-Unvergleichlichen.

Alexander Melnikov hatte das große Glück, diesem außerordentlichen Künstler und Menschen früh zu begegnen. Und diese Begegnung mit Richter prägte ihn, sein Denken über Musik und auch seine Art, Klavier zu spielen. Von diesem Pianisten lernte er, dass sich pianistische Präzision und eine zutiefst subjektive Interpretation keineswegs gegenseitig ausschließen, im Gegenteil: Erst in der gleichsam dialektischen Konstruktion entfaltet sich eine Deutungshoheit, die den Werken ihren Geist belässt und sie zugleich mit neuem Geist zu beseelen weiß. Dass dazu eine nahezu perfekte Technik als Fundament diente, muss man im Grunde gar nicht mehr ins Feld führen: selbstverständlich gebietet auch Alexander Melnikov über jene staunenswerte pianistische Souveränität, die das geniale Klavierspiel überhaupt erst ermöglicht.

Das alles dient aber auch bei Alexander Melnikov, der spätestens seit dem Gewinn des international hochrenommierten Concours Musical Reine Elisabeth in Brüssel 1991 einer breiten Öffentlichkeit bekannt wurde, nur einem höheren Ziel: der absoluten Durchdringung der musikalischen Materie. Und dazu ist es gar nicht zwingend nötig, die romantischen und spätromantischen Klavierkonzerte eines Rachmaninow, Tschaikowsky oder Prokofjew zu spielen. Es genügt, sich den Präludien und Fugen op. 87 von Dmitri Schostakowitsch zuzuwenden (der übrigens wie auch Rachmaninow und Prokofjew selbst ein ausgezeichneter Pianist war), jenem Zyklus, mit dem Schostakowitsch seinem wohl größten Vorbild, Johann Sebastian Bach, ein klingendes Denkmal setzte. Hört man Melnikov mit diesen Stücken, dann erfährt man das große und seltene Glück, die Werke gleichsam von innen heraus zu verstehen; ihre kontrapunktische Logik, ihre Semantik, ihren musikalischen Gestus. Dabei betätigt sich Melnikov jedoch keineswegs als Didaktiker, der dem Publikum seine Weisheit mitteilt; es sind die musikalischen Mitteilungen selbst, die er übermittelt und damit aus dem Zentrum des Geschehens heraustritt; das Wort führt hier nicht der Interpret, sondern die Musik.

Diesem Gedanken folgend, hat sich Alexander Melnikov schon früh auch mit der sogenannten historischen Aufführungspraxis vertraut gemacht. Inspiration erhielt er dabei von zwei Pionieren auf diesem Gebiet, von Andreas Staier und vor allem von Alexei Lubimov, mit dem er häufig auch schon gemeinsame Projekte entwickelt hat. Diese Art zu musizieren, die Melnikov in zahlreichen Konzerten an der Seite von Musica Aeterna, der Akademie für Alte Musik Berlin sowie dem Freiburger Barockorchester vorgestellt hat, zeigt ihn als einen Meister der eleganten Phrasierung und pointierten Artikulation. Auch auf historischen Instrumenten zeichnet sich sein Klavierspiel durch eine höchst individuelle Poesie aus; die besondere Klanglichkeit etwa des Hammerflügels von Salvatore Lagrassa aus dem frühen 19. Jahrhundert, den er bei seinem zweiten Konzert in Essen spielen wird, schöpft er dabei lustvoll aus. Melnikovs Mozart-Interpretationen etwa atmen nicht selten sogar den Geist von dessen mittleren und späten Opern (weswegen man sich auf seine Lesart der F-Dur-Sonate KV332 freuen darf), den Geist der Freiheit und zuweilen sogar den der Anarchie, und dies bei gleichzeitiger Perfektion in Sachen Anschlagskultur. Auch sein Haydn ist durchglüht vom Esprit der Empfindsamkeit; gepaart ist dieser mit jenem gerade für die Klavierwerke dieses Komponisten so wichtigen Humor. Darin wiederum ist Melnikov doch eher ein Seelenverwandter von Alfred Brendel als von Swjatoslaw Richter.

Jürgen Otten

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