Emanuel Ax

Emanuel Ax

Es war der Schriftsteller Imre Kertész, der die wunderbare und zugleich etwas wundersame Sentenz formulierte, dass nur eine Kunst, die Wunden weitergebe, etwas wert sei. Kertész wusste natürlich sehr genau, wovon er da sprach, er kannte viele solcher Wunden, aus denen Kunst gleichsam herausfloss; er hat dies in seinen Romanen mit staunenswerter Sprachmächtigkeit und einer stilistischen Brillanz, die ihresgleichen selten findet, unter Beweis gestellt. Wie später auch in seinen Tagebüchern konnte man in fast jedem Satz spüren, was das Wort von der Wunde meinte.

Es ist nicht bekannt, ob Emanuel Ax die Bücher von Imre Kertész gelesen hat. Man weiß aber, dass dieser US-amerikanische Pianist mehr ist als nur ein Pianist, und es ist zumindest wahrscheinlich, dass man irgendwann bei einer Sitzung in der American Philosophical Society, deren Mitglied Ax seit 2009 ist, einmal auf den ungarisch-jüdischen Schriftsteller zu sprechen kam und somit auch auf seinen Kunstbegriff, in dem sich ein Stück weit das Schicksal der Heimatlosigkeit manifestiert. Und davon könnte auch Emanuel Ax ein Lied singen. Denn geboren wurde in einer Stadt, die es strenggenommen gleich vier Mal gibt: zunächst als Lemberg (als Teil des Habsburger Reiches), dann als Lwów (das zu Polen gehörte) und als Lwow (welches die Sowjetunion sich nach dem Zweiten Weltkrieg einverleibte) und schließlich seit 1991 als L’viv in der Ukraine. Im Zuge der Vertreibung durch die Russen wurde auch die Familie von Ax fortgespült; zunächst führte der Weg sie nach Kanada, später in die USA.

Was das mit seiner Art, Klavier zu spielen, zu tun hat? Mehr, als man gemeinhin annehmen möchte. Denn hinter der geschmeidigen Eloquenz, die dieses Spiel aufweist, wohnt bei Emanuel Ax immer auch ein sehnsüchtig-wehmütiger Tonfall, zuweilen gar etwas Fragiles, Zartes, Verwundetes. Man vernimmt hier gewissermaßen der Seele Sang. Unter den großen Pianisten unserer Tage zählt er zu jenen, die weit mehr durch eine elegant-warme rhetorische Noblesse auffallen als durch virtuoses Gebaren. Die Finesse der musikalischen Mitteilung ist es, die hier aufscheint, nicht der bloße Tastendonner. Kurzum: Man könnte Emanuel Ax mit Fug und Recht auch als einen Kavalier am Klavier bezeichnen.

Als ein solcher hat er sich früh mit den Werken der Klassik beschäftigt, mit Haydn, Mozart und Beethoven. Bestechend ist vor allem die dynamische Reichweite seiner Interpretationen, eine bemerkenswerte Transparenz und Schlüssigkeit der Formulierung. Sensationen wird man vergebens suchen in diesen Gesprächen zwischen Ax und den Komponisten der Wiener Klassik; doch nimmt man das englische Wort als Maßstab, sind es dann doch wieder solche: Wahrnehmungen, verfeinert durch eine Klangkultur, die sich von der barocken Klangrede hat inspirieren lassen. Nicht zufällig wurden seine Einspielungen der Klaviersonaten von Joseph Haydn wiederholt geehrt. Und das zu Recht: Wo andere am »Papa« Haydn herumdoktern, um den Werken ihre vorgebliche Behäbigkeit auszutreiben, da konzentriert sich Emanuel Ax auf die wesentlichen Ingredienzen dieser Musik, auf ihre rhythmische und rhetorische Gewitztheit, auf ihre subtilen Bögen, auf die feindifferenzierten dynamischen Prozesse. Und selbst dort, wo Haydn (was viele ihm nicht zutrauen) auch einmal frivol oder trivial wird, dominiert bei Ax ein Tonfall der Zurückhaltung, den man aber nicht mit edler Einfalt verwechseln sollte; dafür ist dieser Tonfall zu augenzwinkernd und von leise-hintergründigem Charme gewürzt.

Auch das ist eine Eigenschaft, die sein Musikverständnis auszeichnet: Nie würde Ax den vorgegebenen Rahmen eines Stücks sprengen oder nach momentanen Effekten Ausschau halten; er findet die Besonderheiten und Charakteristika lieber im Innern der Musik und sucht danach, was dieses Innerste zusammenhält, kurz: Es ist die Essenz, die ihn interessiert, jener Glanz von innen, von dem der Dichter Rilke spricht. Dass er dabei auch die eine oder andere Wunde weitergibt, zeigt die außerordentliche Sensibilität dieses Pianisten.

Jürgen Otten

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